Behauptung: Taiji und Qigong sind gesund.
CONTRA (nicht zwangsläufig, manchmal, nicht immer)
Alles, was wirksam ist, kann auch spezifische Nebenwirkungen auslösen. Besonders, wenn es in der Anwendung unqualifiziert und übertrieben gehandhabt wird. Die Frage, ob sich eine Methode, die unspezifisch auf die Entwicklung eines ganzen Menschen wirkt (s. These 1) sich auch messbar auf eine günstige Beeinflussung einzelner Organsysteme auswirkt, ist schwierig zu beantworten. Ein Versuch in diese Richtung ist „Der Harvard-Weg“ der Taiji-Akademisierung, der suggeriert, man könne „in nur zwölf Wochen einen gesunden Körper, ein starkes Herz und einen scharfen Verstand entwickeln“.
Der Autor, Prof. Peter Wayne (s. Lit.), ist ein langjährig tätiger, und vermutlich auch kompetenter Taiji-Lehrer aus der Tradition von Zheng Manqing. Er arbeitet an der Harvard Universität in enger Zusammenarbeit mit Prof. Ted Kaptchuk (s.Lit), der das Vorwort seines „Taiji-Guide“ schrieb.
Prof. Kaptchuk untersuchte über viele Jahre die Wirksamkeit traditioneller chinesischer Medizinprodukte und zählt heute zu den renommierten und methoden-sicheren Forschern, die sich mit nicht spezifischen Effekten in der Medizin beschäftigen. Kaptchuk und viele andere belegen in ihren Studien, dass allein die Veränderung psychischer Einstellungen körperliche Auswirkungen haben kann.
Peter Wayne versucht darüber in sorgfältig angelegten Studien nachzuweisen, dass Taijiquan bei älteren Menschen die Gangsicherheit, die Herz-Kreislauffunktion und die Wahrnehmungsfähigkeiten verbessere und daher insbesondere bei älteren und kranken Menschen ein ideales Gesundheitstraining darstelle. Sein Buch gründet sich auf klassische Taiji-Schriften und daoistisch-konfuzianische Begriffe wie auf neuere Erkenntnisse analytischer, labortechnisch-überprüfbarer Bewegungs- und Neurowissenschaften. Um daraus eine Methode ableiten zu können, die durch immer neue Studien von ihm und seinen Harvard-Kollegen überprüft und verfeinert werden kann, musste er Taijiquan standardisieren. Dazu definiert er wenige (für ihn) wesentliche Bestandteile, die Taiji ausmachen sollen. Daraus leitet er dann ein sehr genau strukturiertes Übungs- und Verfahrensprogramm ab. Und nennt es „A Simplified Tai Chi Program“. Ist dieser methodische Ansatz „Taijiquan auf wissenschaftlicher Basis“? Und wenn es so wäre, ist dieser Ansatz der Professionalisierung tatsächlich günstig für die, die weltweit Taijiquan praktizieren? Peter Wayne muss das, was in seinen Kursen stattfindet, als „Taiji“ definieren. Erst dann kann er untersuchen, wie „es“ sich auswirkt. Und es erweist sich dann (bei ihm) als gesundheitsförderlich bei älteren Herrschaften. Er kann aber natürlich nichts aussagen über den „Taiji“-Kurs seiner Kollegen in einem Nachbarort, die vermutlich sehr andere Trainingsschwerpunkte setzen werden, weil sie mehr den Kampfkunstaspekt betonen. Peter Wayne nutzt methoden-sicher „Wissenschaft“, um zu belegen, dass das, was er tut, so auch richtig sei. Das wäre Prinzip gut, wenn er andere (kritisch und skeptisch fragend) mit einer Befragung beauftragen würde. So aber glaubt er an den Nutzen seines Tuns, und sucht Bestätigung, die ihn in seinem Glauben bestätigen. Erfahrungsgemäß findet man bei solchen Studien dann auch genau das, wonach man sucht. Sie bewirken eine Erstarrung eines offenen Systems, weil nur noch (z. B. von den Kassen) anerkannt werden könnte, was nach Waynes starrem Schema zertifiziert wurde. Das führte nicht nur zu nützlichen Leitlinien, Regeln und Qualitätsüberprüfungen, sondern ebenso zu Rangeleien, Streitigkeiten, Eifersucht, Konflikten, Machtkämpfen und Ausgrenzungen.
Taiji bestimmen zu wollen, indem man versuchte, es davon abzugrenzen, was es nicht ist, ist fruchtlos. Die Grauzonen und Überlappungen sind einfach zu groß. Sinnvoll dagegen sind Kriterien, die vielen als wesentlich erscheinen: u. a. „Schwaches lenkt Starkes, Entspannung in eine Struktur, Nachgeben unter Belastung, Harmonie von Körper, Geist und Umfeld“. In einem zeitlos schönen Buch der Yoga-Lehrerin Lucy Lidell kam, neben vielen anderen Körper-Künsten, auch ein kleines Taiji-Kapitel vor. Sie beschrieb dort Taiji als eine Möglichkeit (von vielen), um den Geist dazu anzuregen, den Körper und sein Umfeld mehr zu spüren, und so zu verstehen, dass ein fühlender, atmender Körper eins ist. So können sich Zugangswege eröffnen, um sich zu entwickeln und sorgsamer mit sich und anderen umzugehen.
GKV-Evaluations-Werkzeug: Qualitäts-Überprüfung von Kursangeboten
www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/praevention_selbsthilfe_beratung/praevention_und_bgf/evaluation/evaluation.jsp
Literatur:
- Wayne P, et al.: The Harvard Medical Guide to Tai Chi. 12 Weeks to a Health body, strong heart and sharp mind. Shambhala, Boston & London 2013, www.treeoflifetaichi.com
- Wayne P, et al.: weitere Studien siehe Google Scholar Stichworte „Peter Wayne Tai Chi“
- Wayne P & Ted Kaptchuk: Challenges Inherent to T’ai Chi Research: Part I—T’ai Chi as a Complex Multicomponent Intervention The Journal of Alternative and Complementary Medicine (14(1):https://www.liebertpub.com/doi/abs/10.1089/acm.2007.7170A Solos I: A Conversation with Professor Ted Kaptchuk, a Key Architect of Modern TCM in the West. Cinese med & Culture 7(1)p5-18
Zuerst einmal wäre es sinnvoll, zu beschreiben, was wer unter Gesundheit versteht.
Das scheint so einfach auf den ersten Blick, nur bei näherem Hinsehen ist das gar nicht so.
Man könnte sagen vielleicht sagen, Gesundheit ist nicht alles, aber…ohne Gesundheit ist alles nichts.
Was mir dann sofort weiter wichtig wird:
Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein Weg und eine Aufgabe – jedenfalls eine höchstpersönliche Angelegenheit, die keiner für einen anderen festlegen kann. Leben gefährdet die Gesundheit … täglich, ständig …
Die Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Annelie Keil sagt:
„Gesundheit ist nicht, sie wird. Sie kommt und geht.
In ihr betrachten wir den Prozeß des Werdens, den Gestaltungsakt der Geburt und des Geborenwerdens.
Auch die Krankheit ist ein Prozeß, ein Weg der Veränderung und des Vergehens, die Auseinandersetzung mit dem täglichen Sterben in uns.“
Da kommen wir ins Philosphieren wenn es um das „Carpe Diem- Ergreife den Tag“ geht und die Idee des ständigen Wandels taucht auf, … sehr Taijiquan.
Und so geht dann ein Medizinphilosoph mit dem Thema um:
„Gesund ist ein Mensch, der mit oder ohne nachweisbare oder für ihn wahrnehmbare Mängel seiner Leiblichkeit allein oder mit Hilfe anderer Gleichgewichte findet, entwickelt und aufrecht erhält, die ihm ein sinnvolles, auf die Entfaltung seiner persönlichen Anlagen und Lebensentwürfe eingerichtetes Dasein und die Erreichung von Lebenszielen in Grenzen ermöglicht, so daß er sagen kann:
mein Leben, meine Krankheit, mein Sterben.“
Prof. Fritz Hartmann, Medizinphilosoph UNI Hannover, auf einem Vortrag am 11/11/92 in Soest
und Berthold Brecht geht noch einen Schritt weiter:
„Es gibt wirklich, allen Turnlehrern zum Trotz, eine beachtliche Zahl von Geistesprodukten, die von kränklichen oder zumindest körperlich stark verwahrlosten Leuten hervorgebracht wurden, von betrüblich anzusehenden menschlichen Wracks, die gerade aus dem Kampf mit einem widerstrebenden Körper einen ganzen Haufen Gesundheit in Form von Musik, Philosophie und Literatur gewonnen haben.
Freilich wäre der größte Teil der kulturellen Produktion durch einfaches Turnen und zweckmäßige Bewegung im Freien mit großer Leichtigkeit zu verhindern gewesen.“
Was ist denn nun gesund, welche Art von Gesundheit ist denn gewünscht, wenn ich Taijiquan oder Qigong mache?
Und wo ist das, was ein Slogan der 1990er-Jahre dazu so schön plakativ formulierte:
Lebe wild und gefährlich!
Ist es gesund, wenn ein inzwischen 92-jähriger Kubaner zufrieden seine Havanna-raucht (und das seit dem 12. Lebensjahr mindestens 2 täglich)?
Ich halte es für günstiger im Zusammenhang von Taiji von Lebenskunst zu sprechen. Leben entsteht aus inneren und äußeren Beziehungen in Systemzusammenhängen. Gestalten sich diese harmonisch, entsteht neue Energie, Entwicklung, Ruhe und Sinn. Ein Ökosystem, das vielfältig, friedlich und bunt in sich und in anderen Ökosystemen lebt, kann man, wenn man mag, gesund nennen. In unserer Gesellschaft ist „Gesundheit“ allerdings oft ein Kampfbegriff gegen Krankheiten, damit ein (von anderem getrenntes) „Ich“ (mit gekaufter magischer Munition) irgendetwas besiegen kann.
Sehr schöne philosophische Ansätze, aber habt ihr auch ganz konkrete, die uns helfen? Wenn ich YouTube mit QiGong aufrufe, finde ich jede Menge spezifische Übungen für alle möglichen Krankheiten oder zur Stärkung von Organen. Von Freunden weiß ich, dass sie mit auch ernsthafte Krankheiten lindern konnten. Ich fände es schön, wenn wir hier positive Erfahrungen teilen könnten und von unseren Medizinern auch ein paar mögliche Erklärungen dazu bekämen.
Was haltet ihr davon?
Es gibt u.a. im DaoYinYangsheng Gong (u.a.) sorgfältig entwickelte Übungssequenzen, die versuchen bestimmte Beeinträchtigungen oder Blockaden günstig zu beeinflussen. QiGong wirkt auf einen ganzen Menschen. Das kann unbewusst-körperliches Lernen anregen, wie anders mit Belastungen umgehen oder Überlastungsreaktionen wieder besänftigen. Es wirkt nicht spezifisch (wie ein Pharmaprodukt) und schon gar nicht „gegen irgendetwas“ (beseitigt also kein Problem). Aber es kann sehr hilfreich sein, mit einem akzeptierten Problem anders umzugehen, bis es dann schließlich irgenwann verschwindet. Beispiel-Empfehlung aufgrund von Workshop-Erfahrungen: „Managing Stress with QiGong“ von Tina & Gordon Faulkner (https://archive.org/details/managingstresswi0000faul.Taiji) sehe ich ähnlich: Es taugt nicht dazu, einen bestimmten Gegner zu beseitigen, aber es ist sehr nützlich, um Kämpfe zu verstehen, und dann entspannter, ruhiger und friedvoller mit Belastungen umzugehen.